Inhalt
Die Tokioter Studentin Hana verliebt sich in einen zurückhaltenden jungen Mann, der Nachkomme des seit hundert Jahren ausgestorbenen japanischen Wolfes ist. Aus ihrer großen Liebe gehen das Mädchen Yuki und der ein Jahr jüngere Ame hervor, die beide die väterliche Fähigkeit zum Gestaltenwandel besitzen: Kleine Ohren, vier Pfoten und ein Schwänzchen werden sichtbar, wenn sie besonders aufgeregt sind. Doch das Familienglück währt nicht lange, ihr Vater kommt auf tragische Weise ums Leben. Hana muss Vielfraß und Wildfang Yuki sowie den sensiblen und ruhigen Ame allein aufziehen. Dabei stößt sie an die Grenzen ihrer Kraft und ihres Geheimnisses. "Sagt 'mal ihr zwei, wie wollt ihr leben? Als Mensch? Oder als Wolf?", fragt sie ihre Kinder und beschließt, mit ihnen aufs Land zu ziehen, um neugierigen und misstrauischen Blicken der Stadtmenschen zu entgehen. Unter großen Anstrengungen und Entbehrungen, doch mit der Hilfe und Sympathie der Landbewohner kann die Familie den Alltag fröhlich bewältigen und in der Weite der Natur auf fruchtbar gemachtem Boden unbekümmert leben. Anfänglich liebt Yuki, im Gegensatz zu Ame, in Wolfsgestalt allem hinterherzujagen, was kreucht, fleucht und faucht. Als sie in die Schule kommt, findet sie mehr am Leben ihrer menschlichen Freunde Gefallen und möchte als 'mädchenhaftes' Mädchen anerkannt werden. Ihr Bruder hingegen besucht nur sporadisch die Schule, immer öfter zieht es ihn nun als Wolf in die Berge, deren Flora und Fauna er durch seinen Lehrer – einen Fuchs – sehr gut kennen lernt. Tage voller Starkregen und Sturm versetzen Ame in Sorge um diesen und so verlässt er das Familienhaus für den Wald. Auf der verzweifelten Suche nach ihrem Sohn erkennt Hana, welche Wege für Ame, Yuki und sie ein glückliches Leben bedeuten.
Abb. 1: Screenshot aus Ame & Yuki – Die Wolfskinder (2012). Verleih: KAZÉ Anime/VIZE MEDIA Schwitzerland SA.
Kritik
Der Anime-Film Ame & Yuki ist als Rückblick auf das Leben Hanas und ihrer beiden Wolfskinder konzipiert, der von der jugendlichen Yuki selbst erzählt wird, die als voice over die Geschichte ihrer außergewöhnlichen Familie eröffnet und beschließt. Stellenweise erklärt oder resümiert sie auch im Filmverlauf Erlebnisse, Erfahrungen und Empfindungen ihrer Eltern, ihres Bruders und ihrer selbst, die durch Dialogszenen, Panoramabilder, zeitraffende Szenenabfolgen oder tonlose Bilder ebenso anschaulich werden. Stimmig sind Erzähler- und Figurenrede mit realistisch detailliert gezeichneten Bildern sowie gefühl- bis kraftvoller Klavier- und Streichmusik verwoben. Zusammen vermitteln sie eindrucksvoll den warmherzigen Umgang Hanas mit ihrem Freund, ihren Kindern und den Dorfbewohnern, bieten aber auch humorvollen Nebenfiguren und Situationen Raum.
Der Film beleuchtet Ames und Yukis turbulenten Weg der Identitätsfindung. Dieser verläuft bis zum dreizehnten Lebensjahr zwischen dem Mensch- und Wolfsein hin und her, bis die Geschwister durch einschneidende Erlebnisse in Zivilisation und Natur herausfinden, in welcher Form sie leben möchten. Ihre Mutter Hana, deren Name Fröhlichkeit symbolisiert, begleitet sie dabei mit Stärke, Geduld und Zuversicht, die sie aus der Liebe zum Wolfsmann schöpft, den die Familie auch nach seinem Tod immer bei sich weiß. Die durch den Titel des Filmes suggerierte Geschichte der Wolfskinder ist damit zugleich jene einer alleinerziehenden Mutter, die dem Neuen und Unbekanntem offen und wissbegierig entgegentritt und trotz aller Verluste sowie Strapazen ihrer Familie ein glückliches Leben zu ermöglichen weiß.
Wie schon in Das Mädchen, das durch die Zeit sprang (dt. Erstausstrahlung 2007) gelingt es Mamoru Hosoda und seinem Team sowohl plot- als auch gestaltungstechnisch eine Story zu erzählen, die realistisch wirkt und doch fein mit Fantastischem durchzogen ist. Eine Zuordnung des Filmes zum Fantasy-, Drama- und Slice-of-Life-Genre erscheint daher legitim. Der Zuschauer hat den Eindruck, dass die Wolfscharaktere ganz natürlich Teil der wirklichkeitsnah gestalteten und erzählten Welt sind, nie lassen sie die Geschichte unauthentisch anmuten. Die kleinen Wölfe Yuki und Ame sind entzückend und erinnern an Kemonomimi [1], das morphing von (erwachsenem) Mensch zu Wolf ist zeichnerisch glaubhaft umgesetzt. Erfreulich ist, dass Hosoda hier ein Bild des Wolfes skizziert, das die im Westen weitverbreitete Vorstellung eines 'habgierigen, bösen Wolfes' nicht bedient. Vielmehr verweisen das Verhalten und Sprechen der drei Gestaltenwandler auf positive Eigenschaften: der Wolfsmann kümmert sich liebevoll um die schwangere Hana sowie später um die gemeinsamen Babies; Yuki ist aufgeweckt und weltoffen; Ame entwickelt sich zu einem um- und weitsichtigen Wolf; alle drei können aber auch in sich gekehrt und nachdenklich sein, wissend, dass ihre hybride Identität bei vielen Menschen Abneigung und Angst hervorruft. Die japanische Mythologie spricht dem Wolf vorwiegend eine wohlwollende Rolle zu, sofern der Mensch ihn respektvoll und loyal behandelt, so wie Hana es tut, die vorurteilsfrei die Alterität ihres Freundes und ihrer Kinder annimmt. Sie setzt alles daran, deren gesellschaftliche Stigmatisierung und Ausgrenzung zu umgehen, die in vielen westlichen Mythen zum Wolf mitschwingen. In Japan gilt dieser ursprünglich als Wächter der Felder und Lebensexistenz der Menschen, Vertreiber böser Geister, Beschützer der Schwachen und Ausdruck intakter (Berg-)Natur, in der er sich gut zu verstecken weiß. Daher besteht der Glaube, der Wolf sei doch nicht ausgestorben [2].
Ohnehin offenbart der Anime-Film eine enge Verbundenheit mit der Natur. Die für den japanischen Archipel typischen, klar abgegrenzten Jahreszeiten werden bildlich und musikalisch schön inszeniert, rhythmisieren und betonen das erzählte Geschehen. Bezeichnend ist, dass die Familie aus dem urbanen Tokyo in eine waldreiche Präfektur [3] zieht, wo sie weitab von Dörfern ausgelassen leben und Felder bestellen kann. Neben stimmungsvollen, magischen Naturbildern symbolisiert Ames Verantwortung für den Wald und dessen Bewohner eine tiefempfundene Naturliebe. Nicht zu vergessen sind die Namen der Protagonisten, die ein naturverbundenes Leben andeuten: Yuki heißt Schnee, Ame Regen, Hana Blume und der Wolfsmann, aus den Bergen stammend, wird in der japanischen Originalversion Ōkami genannt. Es kann als 'Wolf' oder 'Gottheit' gelesen werden. Mit Bezug auf die Natur kommen beide Bedeutungen in der Berggottheit (yama no kami) zusammen, die sich dem Menschen in Wolfsgestalt zeigt und seinem Schutz verpflichtet ist. Trotz seines frühen Todes erfüllt im Film neben Hana auch der Vater diese Funktion. Durch einen kleinen Hausaltar mit seinem Bild und stets frischen Blumen sowie durch Hanas Träume wird er im Leben der Familie und im Film immer präsent gehalten. Auch Ame übernimmt letztlich diese Aufgabe im Diesseits, da er sich bestimmt fühlt, über seine Familie sowie die Bergnatur zu wachen. Doch die Traurigkeit, die die besorgte junge Mutter darüber empfindet, wandelt sich in Glückseligkeit um, da die Selbstentfaltung ihrer Kinder auch für sie Glück bedeutet. Ame & Yuki offenbart damit nicht nur die bedingungslose Liebe einer Mutter, sondern auch die Botschaft, sich selbst zu finden und seiner Bestimmung zu folgen, um erfüllt glücklich leben zu können.
Abb. 2: Screenshot aus Ame & Yuki – Die Wolfskinder (2012). Verleih: KAZÉ Anime/VIZE MEDIA Schwitzerland SA.
Fazit
Mittels unaufdringlicher Erzählerstimme, sparsamer, aber aussagekräftiger Dialoge sowie eindrucksvoller Bilder und stimmiger Soundgestaltung vermag Ame & Yuki - Die Wolfskinder fernab jeglichen Kitsches die Geschichte einer außergewöhnlichen Familie zu erzählen. Ihr Umgang mit Verlust und Entbehrungen, ihre Suche nach Anerkennung und Selbstbestimmung erfüllen den Zuschauer sowohl mit Traurigkeit als auch mit Fröhlichkeit. Für dieses kleine Meisterwerk, das auch als gleichnamiger dreibändiger Manga vorliegt, hat Mamoru Hosoda 2013 zu Recht seinen dritten Japanese Academy Award in der Kategorie 'Bester Animationsfilm' erhalten. Der deutsche Verleih gibt den Film ab dem sechsten Lebensjahr frei, wohl wegen des hübschen Charakterdesigns. Die Themen Selbstfindung und hybride Identität, die nicht nur Jugendliche betreffen, sowie die Rolle der starken Mutter Hana werden jedoch erst in späteren Lebensjahren wirklich bewusst und greifbar. In dieser Hinsicht wird der Film frühestens ab dem dreizehnten Lebensjahr empfohlen.
Fußnoten
[1] Kemonomimi sind Figuren, die einzelne Merkmale von Tieren besitzen (Ohren, Schwänze etc.).
[2] Vgl. Knight, John (1997): "On the Extinction of the Japanese Wolf", in: Asian Folklore Studies (56) No. 1, S. 129-159.
[3] Vorlage für diese ist Hosodas Geburtspräfektur Toyama, die viele unberührte Seen, Schluchten und Berge aufweist.Vgl. Audiokommentar auf der DVD Ame & Yuki – Wolfskinder, vertrieben durch KAZÉ ANIME / VIZ MEDIA Switzerland SA (2013).
Titel: Ame & Yuki - Die Wolfskinder
Regie:
Drehbuch:
Erscheinungsjahr: 2013
Dauer (Minuten): 117
Altersempfehlung Redaktion: 13 Jahre
FSK: 6 Jahre
Format: DVD/Blu-ray
Sindy Hildebrand: Ame & Yuki - Die Wolfskinder. In: KinderundJugendmedien.de. Erstveröffentlichung: 16.11.2016. (Zuletzt aktualisiert am: 17.03.2022). URL: https://www.kinderundjugendmedien.de/kritik/filmkritiken/1800-ame-yuki-die-wolfskinder-mamoru-hosoda-2012. Zugriffsdatum: 25.11.2024.