John Walkers Datenspuren: "E-Mail vom Verräter" (2024)

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Eigentlich ist John Philip Walker Lindh ein Glücksfall. Trotz seiner Mähne, trotz des Vollbartes starren aus seinem dürren, doch makellos glatthäutigen Gesicht zwei braune Augen mit hinreichenden Dackel-Qualitäten: Ein erschreckter Junge glotzte da in den letzten Tagen von den Titelseiten so ziemlich jeden amerikanischen Mediums. "Newsweek" ist Walker jetzt eine Titelgeschichte wert. Andere vertiefen die Einblicke in sein Leben.

Die Grundfrage, die Amerika beschäftigt, ist dabei stets dieselbe: Wie hat es zum Sündenfall dieses Wohlstandskindes kommen können? Wieso konvertierte dieser einst wohlgenährte, behütete amerikanische Junge aus liberalem Elternhaus zu den totalitären Taliban?

Oder, im Klartext: Wie sieht sie aus, die fünfte Kolonne?

Vor Jahren noch hätte es unermüdlichen Baggerns und Bettelns und Bestechens und Überrumpelns und Einbrechens von Seiten einer Presse, der man tatsächlich die Tür nicht öffnen sollte, bedürft, um nun schnellstmöglichst zum Psychogramm eines durchgeknallten Wohlstandskindes zu kommen.

Heute sieht das anders aus: Viel effizienter und brutaler vermag sich jedermann in das verquere Seelenleben Walkers zu wühlen, und es wirkt gar nicht mehr anstößig. Denn Walker war nicht nur Wohlstandskind, später Glaubenskrieger - er war auch ein "Bürger" des World Wide Web.

Und damit öffentlich

Walkers Datenspuren, zum Teil nach fünf Jahren noch sichtbar, eröffnen zwei einmalige Chancen:

  • einen scheinbar tiefen Einblick zu nehmen ins verquere Seelenleben eines 14-Jährigen, der sich wünscht, ein schwarzer Gangsta-Rapper zu sein, bevor er dann mit reifen 16 Jahren zum Islam konvertierte;
  • ein für allemal die Lektion zu lernen, in welchem Maße wir alle öffentlich geworden sind.

Denn Surfer "veröffentlichen" sich auch. Mit den richtigen Techniken lassen sich Datenspuren noch nach Jahren finden, und wenn der Surfer selbst auch publizierend tätig war, ist dies so oder so kein Problem.

"E-Mails from a Traitor" titelte gestern der "Weekly Standard" und präsentierte im Web auf rund 30 Ausdruckseiten, was die Rechercheure im "Deja"-Dienst von Google ausgegraben hatten: Da diskutierte Walker in Rap-Newsgroups die Probleme von Welt und Musik. Zitat: "Es ist nicht die Schwärze unserer Haut, die dazu führt, dass die Weißen uns hassen. Es ist IHR Rassismus, der den Hass verursacht."

Yeah, nicht schlecht für einen 14-jährigen, ungewöhnlich blassen Schwarzen auf der Suche nach dem Sinn im Leben. Kolumnisten werden aus solchen Zeilen nun ein tief liegendes Identitätsproblem herbeisäuseln, geflissentlich ignorierend, dass ihre kleine Schwester zwischen 10 und 13 Jahren nur noch mit Pferden redete und sie selbst die Hälfte ihrer wachen Stunden mit 14 als Spiderman mit dem Kopf nach unten an Häuserwänden hingen. Virtuell, zumindest.

Doch der komprimierte wie kompromittierende Blödsinn, den Walker da - im Irrglauben, Newsgroup-Diskussionen stellten eine Art semiprivaten Raum dar - über Jahre abließ, ist nun zum Teil seines Curriculum Vitae geworden. Wenn die feststehende öffentliche Meinung, dass jeder Wohlstandsamerikaner, der zum Fundamentalmuslim mutierte, von Haus aus hirnamputiert sein müsse, nicht gereicht hätte, Walker öffentlich zum Irren zu stempeln - das Protokoll seiner Pubertät dürfte da reichen.

Relevant ist das alles nicht. Wir alle waren einmal Spinner, das gehört zum Erwachsenwerden: sich auch in fremden Rollen zu erproben. Und wir alle kannten diese eine Person in unserem Freundeskreis, der es nicht gelang, den Bodenkontakt wiederzufinden. Eigentlich liebe, phantasiebegabte Menschen, die trotzdem zum Trinker wurden, die Nadel nahmen, in kriminelle Kreise gerieten oder irgendwann verzweifelten, Versager zu sein. Walker fand Halt in einer strengen Religiosität, die - aus Sicht seines kulturellen Umfeldes - etwas mit Realitätsverlust zu tun hat.

Dass das gleiche Umfeld es für gar nicht so unnormal hält, wenn jemand nach einem Verbot der Evolutionslehre ruft, Harry Potter wegen "Satanismus" aus Bibliotheken verbannen will und daran glaubt, als Amerikaner einen göttlichen Auftrag zu haben, die Welt zu ordnen, fällt dabei kaum mehr jemandem auf. Walkers "Sündenfall" wird also kaum erklären, wie die fünfte Kolonne beschaffen ist. Heute legt der "Weekly Standard" zum Glück nach und erklärt seinen Lesern, dass die Minderheit der Muslime in Amerika in Wahrheit nur ein Viertel so groß sei, wie offiziell behauptet wird.

All diese Nachbeben des 11. September zeigen nur, wie heftig die Erschütterung war, die der Massenmord von New York verursachte. Walker ist ein Einzelfall, wie es ihn immer gibt, nicht mehr.

Neu ist an all dem nur, dass es nun ein Medium gibt, in dem der Betroffene selbst über Jahre die Dokumente für seine öffentliche Sektion hinterlegte. Irgendjemand steuerte noch die Bilder für das "Walker Family Photo Album" bei, das "Newsweek" über MSNBC veröffentlicht: "Schnappschüsse aus dem Leben des amerikanischen Taliban-Kämpfers". Vor 150 Jahren hätte man ihn an die Kette legen und über die Jahrmärkte führen können.

All das hat der Wirrkopf Walker sich selbst eingebrockt, keine Frage. Jetzt ist er eine kleine Sensation, in ein, zwei Jahren ist er vergessen.

Die Geschichte, wie John Walker öffentlich seziert wurde, ist dann nur noch aus einem Grund relevant: Weil in ein, zwei Jahren der Unternehmer, bei dem Sie sich beworben haben, sich abends im Bett zu Gemüte führen wird, was Sie bei alt.fan.heavymetal, in der esoterischen Newsgroups zu westeuropäischen Hexenbräuchen oder in der Diskussion über Otto Schilys Sicherheitspaket so vom Stapel gelassen haben. Was all das zum Zeitpunkt seiner Entstehung harmlose Geplapper dann bedeuten wird, ist offensichtlich eine Frage des Verwertungszusammenhanges. In den Vereinigten Staaten ist es übrigens seit Jahren ein lukratives Geschäft, "Personality Profiles" von Bewerbern oder Konkurrenten zu erstellen. Völlig krisensicher.

John Walkers Datenspuren: "E-Mail vom Verräter" (2024)

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